Mittwoch, 9. Mai 2018

Dorman - Wahnfried, 08.05.2018

Der Wagner-Clan in Sippenhaft
Komponist Avner Dorman ist wirklich zu bedauern - er verschwendet so viele gute musikalische Einfälle an eine so tumbe Oper. Wahnfried (hier mehr zur Premiere) ist eine Oper über Familienklatsch aus dem unschönen Geist des erhobenen und ausgestreckten Zeigefingers und der Überheblichkeit. Der frühere Mensch verschwindet hinter der Maske des Lächerlichen, des Dummkopfs, des Bösewichts - das sagt mehr über unsere Zeit und den Willen zu Aburteilung und Moralpredigt als über die frühere Epoche. Ein neues Spießertum unterzieht wieder alle Lebensbereiche einer Gedankenkontrolle, der frühere Irrtum wird zum Stigma. Doch man kann an eine längst verstorbene Person nicht die Maßstäbe von heute anlegen. Heute wie damals sagen die Leute meistens das, was viele andere auch sagen. Karl Marx bezeichnete den frühen Sozialdemokrat Ferdinand Lassalle als "jüdischen Nigger", Polen sprach er als Land die Existenzberechtigung ab, Schweizer sind "dumm", Dänen "verlogen", Friedrich Engels ekelte sich vor Homosexuellen, Richard Wagner war Antisemit (und ließ doch einen Juden seine letzte Oper bei der Uraufführung dirigieren) - alle drei u.v.a.m. waren Kinder ihrer Zeit. Simone de Beauvoir notierte in ihren Memoiren den wichtigen Gedanken, daß sie in der Zukunft nach Kriterien beurteilt werden würde, die sie selbst nicht kennen könne und beklagte 'die ungeheure Arroganz der Nachwelt' - Wahnfried ist ein Beispiel dafür.
   
Thomas Mann schrieb 1931: „Wagner ist, als künstlerische Potenz genommen, etwas nahezu Beispielloses, wahrscheinlich das größte Talent aller Kunstgeschichte“. Mozart drang zu Lebzeiten nicht durch, Wagner prägte schon zeitlebens die Zukunft. Heutzutage ist das für einige umso schwerer zu akzeptieren, denn das Genie Wagners bezog seine Inspiration und Kreativität auch aus negativen Gefühlen, seine Haltung ist berüchtigt, Ablehnung war bei ihm eine Quelle des Schöpferischen und belegt, daß Groll und Haß durch künstlerische Potenz zu Großem sublimiert werden können. Man mag ihn deshalb charakterlich diffamieren, übersieht dabei aber, daß die Ich-Bildung Zufall ist und der Eintritt in die Öffentlichkeit der Stellungnahme immer als Teil der Mitwelt -in Bezug zu Freunden und Gegnern, durch Sympathien und Abneigungen, wegen Benachteiligungen und Bevorzugungen- erfolgt. Er hätte genausogut ein Anderer sein können. Wer wollte ihm das nach seinem Tod noch vorwerfen? Was er war, ist abgetan, was er schuf, bleibt bestehen, denn seine Werke sind frei von plakativen Feindseligkeiten. Daß die Wagner-Familie dem nach damaligen Maßstäben politisch korrekten Verhalten folgte, ihre familiären Konflikte, die Verstiegenheit, die Exzesse sind menschlich, ihre Abgründe vielleicht tragisch, aber nicht grotesk. Grotesk ist nur, wer heute das Menschliche unter Verdacht stellt, wer den ersten Stein wirft sowie für sich selber das sittliche Niveau einfordert, über längst Verstorbene zu richten und wenn man einst die Intendanz von Peter Spuhler rückblickend analysieren will, so könnte das unter der Prämisse geschehen, die Rückkehr des Gezüchts der Spießigkeit im Theater erzählen zu wollen.

Die gestrige letzte Aufführung fand vor wenig Publikum statt. Trotz bemerkenswerter Musik, Sänger und Inszenierung fehlt Wahnfried das Entscheidende: das Kraftwerk der Gefühle. Wer nur zuhört und erfolgreich die unsympathische, selbstherrliche Haltung des Librettos ausblendet, kann sich über eine bemerkenswert gelungene Partitur freuen, die von Justin Brown und der Badischen Staatskapelle großartig musiziert und hingebungsvoll gesungen und interpretiert wird. Eine zeitgenössische Oper bei der fast alles stimmt außer dem Verhältnis zu ihren Helden.