Donnerstag, 28. September 2017

Vekemans - Judas, 27.09.17

Timo Tank ist zurück!
Und wie! Wer sonst kann bei einem 75minütigen Monolog so die Spannung hochhalten, so virtuos Facetten zeigen, eine Einmannshow so souverän und mit Stärke meistern. Großes Theater! Tank (mehr zu ihm auch hier) zeigt sich unverändert und führt den Zuschauern vor, auf was man während seiner Abwesenheit in Karlsruhe verzichten mußte. Und man sollte sich auf keinen Fall vom religiösen Kontext beeindrucken oder abschrecken lassen, Judas ist vor allem eine spannende und unterhaltsame Geschichte, die gerade nicht bierernst theologisch und düster daher kommt, sondern auch amüsante Aspekte hat und stets das Publikum im Auge behält. Der Jubel war groß nach der Premiere. Als Schauspiel-Fan sollte man sich diesen schauspielerischen Genuß nicht entgehen lassen.
    
Worum geht es?   
Warum hat Judas Jesus verraten? Es gibt ein in Deutschland bekanntes Werk -Die Verteidigungsrede des Judas Ischariot- des Schriftstellers und Protestanten Walter Jens (1923 †2013), das sich Judas in einer diskutablen Annahme nähert. Bei Jens ist Judas Jesus' Komplize, der sich dazu bereit erklärt, die undankbare Aufgabe der Auslieferung seines Meisters an die feindliche Obrigkeit zu übernehmen - ein Sündenbock - ein Verrat aus Gehorsam. Lot Vekemans' Judas ist ein aktueller Text, der Jens' Gedanken variiert. Judas will sich aber nicht rechtfertigen, der Verrat wird nicht bestritten, die Gründe und Motive nicht umfassend dargelegt. Judas erwartet nicht, daß man sein Tun begreift. Er verriet den Messias nicht aus Gehorsam, sondern aus Enttäuschung über seinen Langmut gegenüber Besatzern und Unterdrückern. Judas will seinen Namen reinwaschen. Die Sozialpsychologie kennt den "fundamentalen Attributionsfehler“, situative Faktoren werden unterschätzt, Persönlichkeit und Haltung überschätzt. (Beispiel: Erfolg schreibt man sich selber zu, am Mißerfolg sind äußere Faktoren schuld. Wer aggressiv wird, ist nicht unbedingt ein aggressiver Charakter, sondern jemand, der sich in die Enge getrieben fühlt). Judas will in diesem Sinne seine Persönlichkeit rehabilitieren und den situativen Charakter seiner Tat hervorheben. Menschen zeigen Reue, wenn sie zu leiden beginnen und die Auswirkungen ihres Handelns spüren. Judas' Selbstmord war das Eingeständnis eines fatalen Fehlers, mehr Verantwortung für sein Tun konnte er nicht übernehmen, er hat seine Schuld nicht verdrängt - Judas hat gute Gründe, als Charakter ernst genommen werden zu wollen.

Was ist zu sehen?
Nun taucht Judas in der Karlsruher Stadtkirche auf und die erste Frage, die man sich stellt, ist, wo und wann man sich zeitlich befindet. Zwischen Verrat und Selbstmord? Oder ist dieser Judas ein Wiedergänger, der 2000 Jahre später erscheint? Letzteres trifft zu, es geht also nicht um die akute Seelennot, die zum Selbstmord führt, sondern um den heutigen Blick. Judas scheint auf Tour zu gehen, weil die Zeit reif sein könnte, ihm Gerechtigkeit entgegenzubringen. Er führt kein Selbstgespräch, er spricht zum Publikum, er sucht den unmittelbaren Kontakt - er will sich den Zuschauern erklären. Timo Tank als Judas ist unrasiert und trägt einfache heutige Allerweltskleidung, im Zustand etwas vernachlässigt - Judas ist nicht eitel oder will so nicht wirken, er achtet nicht auf sich, sein Auftritt soll dennoch nicht Zerknirschung zeigen, er ist sympathisch und will verstanden werden, immer wieder wiederholt er Sätze, damit sie hängen bleiben. Sein Auftritt ist genau geplant. Er blickt zurück, erzählt seine Herkunft, seinen Werdegang, seine Karriere als Apostel, sein Engagement, seine Wünsche. Jesus sah er als Befreier von der römischen Knechtschaft, als dieser das Kämpfen ablehnt und durch die Sanftheit des eigenen Glaubens auch Erniedrigungen akzeptiert, beginnt sich ein Bruch zu vollziehen, die sich aus Judas' persönlichen Hoffnungen und politischen Erwartungen und deren Enttäuschung bildeten. Die Pointe seiner Geschichte ist, daß er Jesus' Tod nicht vorausgesehen hat, immerhin war er beim Einzug nach Jerusalem  begeistert empfangen worden, daß Barnabas statt Jesus vom Volk erwählt wurde, war keine Selbstverständlichkeit. Judas will situativ reagiert haben und löste damit eine Katastrophe aus, die Gutes bewirkte. Ist er deshalb verdammenswert und abscheulich? Judas heischt nicht um Verzeihung, er will nicht relativieren, er will sich als Persönlichkeit rehabilitieren.
Beeindruckend gut ist die Balance dieser Geschichte gelungen, vom entspannten Beginn, der ruhigen Erzählweise mit Verdichtungen und Entspannungen über die Zuspitzung am Ende. Und das alles ohne Bühne und Requisite - Timo Tank hat alles im Griff.

Perspektivwechsel: "Doch weh dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird. Für ihn  wäre es besser, wenn er nie geboren wäre." (Matthäus 26, 24 )
  
 

Was ist zu beachten (1)?
Was wäre passiert, wenn Judas Jesus nicht verraten hätte? Ist das nicht die falsche Frage? Wer über Motive für Judas' Handeln spekulieren will, übersieht gerne, daß er als Verräter lediglich eine allegorische Figur ist, der Verrat an Jesus ist der Verrat am Glauben. Die biblische Geschichte funktioniert auch ohne den namentlich bekannten Verräter. Das Christentum hat seine Entwicklung nicht Judas Ischariot zu verdanken. Daß er es war, ein Vertrauter aus dem Umfeld, der mit 30 Silberlingen belohnt wurde, soll nur zeigen, welch schmaler Grat der rechte Weg ist, wie der scheinbare Unterstützer zum Gegner wird. Judas ist das Sinnbild für die Niedertracht des Menschen, seine Verführbarkeit, sein Sein am Abgrund, das durch eine falsche Entscheidung der Verdammnis anheim fällt. Judas' Tat galt nicht einem höheren Ziel, ihn damit in Verbindung zu bringen ist, als ob man bspw. einem Terroristen zugesteht, daß seine Tat einst rückblickend von quasi prophetischer Richtigkeit geprägt wurde. Es ist Gutes aus Judas' Tat entstanden, aber dieses Gute wurde von anderen bewirkt. Judas ist ein Verräter.

Was ist zu beachten (2)?
Die Versuche der Relativierung der Figur des Judas könnte ihren Ursprung im veränderten Gottesbild haben. Die Menschen brauchen immer weniger Antworten auf Sinnfragen, die Religion gibt kaum noch  Lebensorientierung von oben. Das Seelenheil wurde verdrängt, der diesseitige Wohlfühl- und Kuschelgott hat den fordernden, strafenden und verdammenden jenseitigen Gott ersetzt und schafft sich damit selber ab. Im Zweifelsfall wird einem schon vergeben werden, "Gott wird mir verzeihen, das ist sein Beruf", soll Heinrich Heine auf dem Sterbebett gesagt haben. Doch wer keine Angst vor dem Jenseits mehr hat, für den verliert auch die heilige Schrift an direkter Autorität, wer sich nicht um das eigene Seelenheil sorgt, für den verkommt die Bibel zum Zitatenwerk vergangener Lebensratschläge. Dem angepaßten Sender Christentum gehen in Deutschland die Empfänger aus. Noch ist die Kraft der christlichen Rituale stark, Weihnachten, Ostern, kirchliche Hochzeiten und Taufen - säkulare Ersatzrituale haben bereits Einzug gehalten, religiöse Feiern werden noch einige Zeit als entleerte Form überstehen (und Ruinen bleiben oft viel länger erhalten als die Epoche, in der sie als Gebäude in Gebrauch waren). Die Relativierung der Schrift führte zum Autoritätsverlust, die Relativierung der Figur des Judas paßt ins Bild des nachgebenden, orientierungslosen Christentums. Daß diese Relativierung nun ausgerechnet als Theaterproduktion in einer Kirche passiert, ist die eigentliche Pointe dieser Inszenierung. In einem Tagebucheintrag von 1807 schreibt Goethe: "Der Protestantismus hält sich an die moralische Ausbildung des Individuums, also ist Tugend sein erstes und letztes, das auch in das irdische bürgerliche Leben eingreift. Gott tritt in den Hintergrund zurück, der Himmel ist leer und von Unsterblichkeit ist bloß problematisch die Rede." Wer es auch immer war, der anläßlich des Lutherjahrs bemerkte, daß der Reformator mit dem heutigen deutschen Protestantismus so viel gemeinsam hat, wie die Liberalen mit Karl Marx' Kommunistischen Manifest, könnte recht haben. Und noch mal Heinrich Heine: "Es sind in Deutschland die Theologen, die dem lieben Gott ein Ende machen – on n'est jamais trahi que par les siens". Verraten wird man nur von seinen Freunden.
    
Fazit: Großes Theater! Im Publikum war es mucksmäuschenstill bei dieser spannenden, eindringlichen und kurzweiligen Inszenierung und dank des großartigen Timo Tank! BRAVOOO!

Besetzung und Team:
Mit Staatsschauspieler Timo Tank
Regie: Tilman Gersch
Kostüme: Friederike Hildenbrand