Sonntag, 9. Juli 2017

Mozart - La Clemenza di Tito, 08.07.2017

Inspirierter Mozart in stinklangweiliger Inszenierung
Die letzte Opernpremiere der Spielzeit widmet sich Mozarts letzter Oper (deren Uraufführung 90 Tage vor seinem Tod stattfand), die nach der Französischen Revolution von 1789 im Aufführungsjahr 1791 anläßlich einer böhmischen Königskrönung als feudales Auftragswerk innerhalb kurzer Zeit entstand und die längste Zeit wenig geschätzt wurde - Intrigen, die immer zu früh kommen und Arien, die immer zu spät kommen, lautet ein verbreitetes Bonmot über diese Oper. La clemenza di Tito ist Mozarts Werk über einen Terroranschlag, es ist aber auch vor allem eine Oper über triefende Gnade und handelt vom Vergeben, Verschonen, Verzeihen und Verzichten. Die neue Karlsruher Produktion entscheidet sich gegen Aktualisierungen und sogar gegen eine Inszenierung, was man sieht, ist ein ideenloses, biederes Arrangement ohne jeden aufregenden Moment und die schwächste Leistung der Saison. Gerettet wird dieses Fiasko eines szenischen Nichts durch großartige Sänger und eine hochinspiriert musizierende Badische Staatskapelle.
  
Worum geht es (1)? - Historisches
Der römische Imperator Titus (*39 †81) war nur zwei Jahre Kaiser, er starb schnell und bekam von frühen Historikern das Etikett eines idealen, gerechten und wohltätigen Herrschers - das ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, daß der Feldherr Titus zuvor als blutiger Schlächter im Jüdischen Krieg (66-70) galt, der Jerusalem verwüstete und den Tempel zerstörte, dessen Überreste heute als Klagemauer bekannt sind. Titus zu Ehren steht in Rom ein ihm gewidmeter Triumphbogen, der Titusbogen - ein antiker Vorläufer des Parisers Arc de Triomphe. Im Karlsruher Bühnenbild wird er durch einen Nachbau angedeutet und ist zentraler Bestandteil der Szenerie.
Der erfolgreiche Star-Dichter Pietro Metastasio (*1698 †1782) griff die positive Zuschreibung der Historiker auf und verfaßte ein Opernlibretto über den gütigen Titus -La clemenza di Tito-, das ca. 40-50 mal vertont wurde und sich als herrschaftliche Festoper etablierte, zuerst 1734 durch Caldara, Mozart gehörte 1791 zu den letzten Komponisten, die sich dieses Themas und des damals über 50 Jahre alten Texts annahmen, der kurz darauf anachronistisch wurde - der Aufstieg des Bürgertums wies die absolutistisch durch Gottesgnadentum regierende Herrschaft in die Schranken, die Opera Seria mit ihren Götter- und Fürstendramen war bald veraltet. Doch bis dahin gaben adlige Herrscher die Oper über den großzügigen Titus gerne in Auftrag. Mozart hatte nur wenige Wochen zur Fertigstellung, das Libretto wurde umgearbeitet und von drei auf zwei Akte gekürzt. Von den ursprünglich 25 Arien blieben sieben übrig, vier neue kamen hinzu, ebenso drei Duette und drei Terzette, ein Quintett und ein Sextett sowie Chorszenen.

Worum geht es (2)? - Handlung
Ort und Zeit: Rom um das Jahr 80 n.Chr.
Personen: 4 Männer und 2 Frauen aus der Herrschaftsschicht. Kaiser Titus (Tenor), seine beiden vertrauten Freunde Annio und Sesto (beide Mezzosoprane), Sestos Schwester Servillia (Sopran) und Annio wollen heiraten, Sesto ist der Liebhaber Vitellias (Sopran), der Tochter eines früheren Imperators. Und es gibt noch den "Polizeichef" Publio (Baß).
Handlung:  Titus' Vater Vespasian hatte sich im Bürgerkrieg gegen drei Mitkonkurrenten um die Kaiserwürde durchgesetzt, darunter Vitellius, dessen Tochter Vitellia entweder legal durch Heirat mit Titus oder durch Gewalt auf den Thron will. Da Titus beabsichtigt, eine ausländische Prinzessin zu heiraten, plant Vitellia einen Anschlag auf Titus' Leben, um an die Macht zu kommen, Titus' Freund Sesto ist Vitellia hörig und soll ihr Werkzeug sein, sie fordert ihn auf, seinen Freund zu töten. Die Mitteilung, daß Titus auf eine Liebesheirat mit der judäischen  Prinzessin Berenike verzichtet und auf Druck seines Volkes doch eine politisch korrekte Römerin heiratet, verzögert den Anschlag. Vitellia hofft, daß sie die Erwählte sein wird. Titus will aber die Schwester seines Freundes Sesto zur Braut nehmen - nicht aus Liebe, sondern aus Berechnung, um den Freund enger an sich zu binden. Servillia gesteht Titus jedoch ihre Liebe zu Annio, Titus verzichtet umgehend und entscheidet sich nun in dritter Wahl für Vitellia. Diese ist einverstanden, aber es ist zu spät, Sesto hat trotz schweren Gewissenskonflikt bereits das Kapitol in Brand gesetzt und will Titus stürzen - Eros ist stärker als Philotes. Der Umsturz mißlingt, Titus überlebt, Sesto wurde von Publio verhaftet und gesteht, ohne das Komplott zu verraten, er wird vom Senat zum Tode verurteilt. Titus kann nicht glauben, daß sein Freund ihm nach dem Leben trachtete, er bietet ihm Gnade an, doch Sesto lehnt ab. Vitellia erkennt ihre Schuld und gesteht öffentlich ihre Mittäterschaft, um Sesto zu retten. Titus ist vom doppelten Verrat schwer getroffen und will dennoch verzeihen. Er begnadigt alle Verschwörer.

Was ist zu sehen (1)?
Man sieht das Produkt einer vorgetäuschten Regie, man tut so, als ob. Man könnte fast von Arbeitsverweigerung sprechen, wenn nicht Bewegungen und Konstellationen lustlos in Szene gesetzt und man knapp an der konzertanten Aufführung vorbei schrammte. Aufgrund der Ideenleere sollte man nicht von einer Inszenierung, sondern von arrangierten Szenen sprechen. Es ist diskutabel, welche Form von Regie härter zu kritisieren ist: phantasievolle Launen und abwegige Kreativität oder wie in diesem Fall Gedankenlosigkeit in Form braven Buchstabierens. Der Vorteil dieser Mozart-Produktion ist, daß man nichts denken muß - gepflegte Langeweile ohne Aufregung - dem Karlsruher Premierenpublikum war das leider kaum Buhs wert. Dabei verpaßt man so vieles .....

Was ist zu beachten?
Mozarts Oper steht an einer Schwelle: Das Thema ist einerseits typisch barock, alle Personen sind adlig, das Volk tritt nur als Chor auf, es geht um Liebe, Intrige und Verrat in den höchsten Kreisen und wie bspw. bei Händel gibt es ein Lieto Fine, ein glückliches Ende - Friede, Freude, Eierkuchen, der Vorhang fällt schnell, die verfahrene Situation ist aber nicht gelöst. Der damals einflußreiche Mitbegründer des Klassizismus Johann Joachim Winckelmann (*1717 †1768) wollte Barock und Rokoko durch Rückbesinnung auf die antike griechische Kunst überwinden und beschrieb sie als Beispiel "edler Einfalt und stiller Größe". Die Macht der Humanität und der Vernunft scheint der Freimaurer Mozart auch in die Figur des Titus gelegt zu haben. Heute hat man bei der Interpretation mehr Spielraum und die Situation erweist sich als psychologisch dankbar. Titus' Geste wirkt überlebensgroß, ist sie auch nachhaltig? Von Thomas von Aquin stammt eine kluge Bemerkung: "Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit; Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit ist die Mutter der Auflösung." Jede Inszenierung steht auch vor der Frage, wie es um die Herrschaft des Imperators steht. Der eminente Denker und Staatsrechtler Carl Schmitt (*1888 †1985) definierte: "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet." Titus entscheidet sich gegen die Hysterie, doch folgen ihm sein Volk und dessen Repräsentanten? Verzeiht ihm sein Volk seine Herrschaft und seine Gnade für die Attentäter? Eine Frage, die man sich in Karlsruhe gar nicht erst stellt, der Chor ist Staffage ohne Charakter, nur Publio tritt aus Protest von seinem Amt zurück. Doch das alles ist viel zu blaß inszeniert, als daß man gespannt die Entwicklung verfolgt.

Wer ist Titus?

"Der fiktive Tito der Oper verkörpert einen pazifistischen Herrschertypus, der wie eine Art Proto-Gandhi Gewaltfreiheit und Güte propagiert und diese sowohl zu seiner Handlungsmaxime im Privaten als auch zu seinem politischen Programm gemacht hat.", erläutert Regisseur Patrick Kinmonth im Programmheft.
Das muß man nicht so einseitig sehen. Titus verzichtet zu Beginn der Oper auf die Liebe und wählt das politisch korrekte Arrangement mit einer Römerin. Ist Titus nur ein berechnender Politiker, ist seine Großzügigkeit Strategie, ist sein Gewaltverzicht Kalkül aus Machterhalt? Ist er ein Tyrann und hätte sich etwas zum Besseren gewendet, wenn er gestorben wäre? Treibt Zynismus die Handlung und die Rebellion ist im Grunde gerechtfertigt? Oder ist Titus, was er vorgibt zu sein: ein Gutmensch? Titus' Güte wird vom Regisseur ernst genommen, sie ist keine Pose. Seine Motivation wird verschämt angedeutet: am wohlsten fühlt sich der Kaiser in der Gesellschaft von sportlichen, knapp bekleideten jungen Männern. Wieder einmal ist das einzige, was einem Regisseur bei Intendant Spuhler einfallen darf, eine homoerotische Verklemmung. Die Freundschaften zwischen Titus, Sesto und Annio bleiben hingegen undefiniert.

Endet die Oper mit einem Happy-End?
Man kann die Oper als pazifistisches Manifest interpretieren bei dem der "Proto-Gandhi" Titus bejubelt wird und der Idealismus des Gutmenschen die Welt verändert - szenisch ist dann ein Happy-End zu inszenieren. Endet also die Gewaltspirale? Der Schlußjubel kann auch vordergründig klingen, die Oper ist dann ein Lehrstück in Realpolitik. Der französische König Ludwig XVI. sollte erst am 21. Januar 1793 guillotiniert werden, dennoch meinen viele, bei Mozarts Oper eine wissende Traurigkeit über die Unmöglichkeit des Gutseinlassens herauszuhören - dem Teufelskreis der Rache und Vergeltung entkommt man nicht als Gewalt ablehnender Pazifist, man wird selber unterjocht und Opfer - Gewaltverzicht ist Souveränitätsverzicht ist Achtungsverzicht und provoziert Angriffe. Jede Inszenierung steht also vor der Frage, ob es realpolitisches Bedauern über die Faktizität der menschlichen Natur ausdrückt oder die menschliche Größe des Pazifisten Titus feiert. Die Karlsruher Inszenierung entscheidet sich für das Scheitern des Gutmenschen - Vitellia begeht Selbstmord vor seinen Augen. Sie ist lieber tot als von der Gnade dieses Kaisers abhängig.

Was ist zu sehen (2)?
Patrick Kinmonth ist als Regisseur und Kostümbildner sowie in Zusammenarbeit mit Darko Petrovic auch für die Bühne verantwortlich. Der Titusbogen ist zentrales Bühnenbildelement, dazu der Regisseur: "Ich sehe in unserem Zitat des Bogens einen Archetyp beziehungsweise ein Symbol für Macht, Machtdemonstration und Eitelkeit der Herrschenden, dem in bestimmten Momenten auch etwas Unwirkliches und Geisterhaftes anhaften soll. In diesem Zusammenhang interessiert mich die Übergröße dieser Symbolarchitektur, die das Individuum klein aussehen läßt". Das war's im Prinzip auch schon - die Bühne hat weder visuell noch atmosphärisch einen Erinnerungswert. Ein projizierter Vogelschwarm taucht öfters auf - die alten Römer sollen abergläubisch gewesen sein, deswegen erfindet der Regisseur eine stumme Rolle - eine Seherin. Das alles ist so überflüssig wie belanglos und trägt nichts Wesentliches zur Handlung bei.
Die Kostüme unterscheiden nicht zwischen den Geschlechtern, man sieht weite Röcke und Gewänder, ein Camouflage-Muster, das den Chor aus der Ferne ein wenig wie eine Kuhherde wirken läßt. Die handelnden Figuren sind nur farblich gegen den Chor abgesetzt, Titus erinnert an die lila Milka-Kuh. Regisseur Kinmonth erläutert: "Mein Ziel ist es, im Zuge der schichtweisen Entschlüsselung und szenischen Umsetzung von Musik und Text eine dramatische Poesie zu erzeugen, die eher in der Andeutung, in der Suggestion liegt und nicht in einem harten und in seiner Eindeutigkeit letztlich spannungsarmen Statement."  Na ja, da kann man erwidern, daß der Weg zum Statement spannend sein und in der Schlußszene kulminieren sollte. Hier kulminiert nur die Langeweile und man kann damit rechnen, daß mancher Zuschauer danach sofort zu Hause ins Bett geht und gut schlafen kann. Wenn man etwas Gutes über diese Clemenza di Tito sagen will, dann, daß sie blutdrucksenkend, beruhigend und einschläfernd wirken kann.
  

Was ist zu hören?
Dirigent Gianluca Capuano läßt die Badische Staatskapelle historisch informiert und mit Naturhörner und -trompeten spielen und erzielt einen spannenden Mozartklang, bei dem die Holzbläser groß aufspielen. Die Ouvertüre erklang wie aus einem Guß, vor allem die Steigerungen klangen im Verlauf des Abends stets spektakulär, für die hohe Spielkultur erhielten die Musiker lautstarke Huldigungen des Publikums. In der Summe eine großartige Leistung aus dem Orchestergraben. BRAVO!
Bei den Sängern kann man kaum jemanden hervorheben - die Premiere war hochklassig. Vor der Premiere ließ sich Tenor Jesus Garcia vom Operndirektor beim Publikum entschuldigen. Die sommerliche Hitze in Karlsruhe hatte ihm zugesetzt, doch das schien weniger Unwohlsein und eher Selbstzweifel und Lampenfieber, denn Garcia zeigte in der Folge als Titus eine sehr gute Leistung. Seiner Figur wird von der Regie allerdings auch keine Herausforderungen gestellt, vielleicht lag es daran, daß eine Entwicklung seiner Figur fehlt, sie bleibt unbestimmt - ein seltsamer Heiliger.
Besonders ausdrucksstark und souverän und stimmlich die Hauptrolle des Abends war Dilara Baştar als Sesto. Ob "Parto, parto, ma tu ben mio", "Oh Dei, che smania è questa" oder "Deh per questo istante" - stets hatte sie den perfekten Plan. Sie bekam zu recht die meisten Bravo-Rufe - schöne Phrasierung, wunderbare Pianos, hohe Stimmkultur - für Baştar ist Sesto eine zukünftige Paraderolle, die sie hoffentlich noch oft singen kann. Brava! Katherine Broderick konnte ihre kraftvolle Stimme als rachsüchtige, schwankende Vitellia sehr gut in Szene setzten, ein Höhepunkt "Non più di fiori" mit seinen tiefen und hohen Stellen klang ideal zwischen Bedauern und Wut, und das Bassethorn im Orchestergraben verdiente ein Extra-Applaus. Wunderbar auch Kristina Stanek als Annio und Uliana Alexyuk als Servilia, ihr Duett "Ah perdona al primo affetto" im ersten Akt gehörte zu den schönsten Mozart-Momenten des Abends, die kleine Rolle des Publio war bei Renatus Meszar gut aufgehoben. Der Chor war leider szenisch kaum gefordert, ein paar Alibi-Bewegungen bei unspektakulären Auf- und Abgängen.

Fazit: Musikalisch und sängerisch war die Premiere hochklassig und üppig. Szenisch hingegen ist man mager und komplett ohne jede Triftigkeit. 

Besetzung und Team:
Tito Flavio Vespasiano: Jesus Garcia       
Vitellia, Tochter des Kaisers Vitellius: Katherine Broderick
Sesto, Freund des Titus: Dilara Baştar
Servilia, Schwester des Sesto: Uliana Alexyuk
Annio, Freund des Sesto: Kristina Stanek
Publio: Renatus Meszar

Musikalische Leitung: Gianluca Capuano
Chorleitung: Ulrich Wagner

Regie & Kostüme: Patrick Kinmonth
Bühne: Darko Petrovic, Patrick Kinmonth