Sonntag, 2. Oktober 2016

Khemiri - Ich rufe meine Brüder, 01.10.2016

Auch die zweite Schauspiel-Premiere der Saison handelt indirekt von Terror und seinen Folgen. Nach Ferdinand von Schirachs Kritik am Grundgesetz und dessen Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht geht es nun um eine andere Form von Schutzreflexen - um Rückzug und Ablehnung. Ich rufe meine Brüder ist ein witzig-pessimistischer Abgesang auf Multikulti: zwischen den Kulturen gibt es keine Heimat, jeder wird immer auf seine vermeintliche Herkunft zurückgeworfen, Gemeinsamkeiten finden kaum statt, der Autor zeigt Getrenntsein, Gegenüberstehen und Mißtrauen. Das hört sich nach Drama an, ist aber überwiegend Komödie und erneut lohnt sich der Besuch nicht wirklich wegen dem Stück, sondern wegen der schauspielerischen Leistung: die Spielfreude war bei der Premiere ansteckend!
            
Worum geht es?
Stockholm am Morgen nach einem Attentat durch eine Autobombe. Der Sohn eines arabisch-schwedischen Paares mit dem Vornamen Amor war alleine und betrunken in einem Club zum Tanzen, doch er, der harmlose Student (des explosiven Fachs Chemie) mit Migrationshintergrund, sieht aus wie der typische Terrorist. (Oder doch nicht? In Karlsruhe werden Amor keine dauerhaften Attribute verliehen, nur zu Beginn kleben sich die vier Schauspieler Saddam-Hussein-Schnurrbärte an und posieren in selbstherrlicher Pose). Es folgen 24 Stunden der Selbstbefragung und des Zweifels, Telefonate werden geführt und enthüllen Amors Dilemma. Trotz schwedischer Mutter ist er nicht in Schweden angekommen, er fühlt sich nicht echt und beschreibt sich selber als instabiles Element und Produkt eines Experiments mit begrenzter Lebensdauer - Multikulti wird hier zur Künstlichkeit mit Zerfallstendenz. Trotz Abitur und Studium hat Amor im Stück keine schwedischen Freunde, sein Umfeld ist durch Herkunft und Familie seines Vaters geprägt (mit dem er allerdings nicht mehr redet). Wenn er von "uns" und "Brüdern" spricht, meint er nie eine offene Gesellschaft, nie Schweden, es scheint hier nur Monokulturen ohne Gemeinsamkeit zu geben. Die einzige wichtige Beziehung zu Schweden ist die unerwiderte Liebe zu seiner Sandkastenfreundin Valeria, die ihn mag, aber nicht liebt. Sie fühlt sich durch ihn belästigt (neudeutsch gestalked) und zieht in eine andere Stadt, um seinen Nachstellungen zu entkommen (eine Episode, bei der man an die sexuellen Übergriffe der Kölner Silvesternacht ungut erinnert wird). Amor will Liebe, Valeria bietet lockere Freundschaft, im übertragenen Sinn will Amor akzeptiert werden, bekommt aber bestenfalls Toleranz. Nur bei einem imaginären Telefonat mit der toten schwedischen Großmutter kommt so etwas wie heimatliches Selbstverständlichkeit auf. Amor fühlt sich unwohl, verdächtig und unter Generalverdacht als er in den Straßen unterwegs ist, er steigert sich in Gewaltphantasien, das Stück endet damit, daß Amor vor sicher selber erschrickt: er sieht sein Spiegelbild und glaubt, etwas Verdächtiges, Fremdes und Bedrohliches zu sehen. Doch wovor hat Amor Angst? Schweden hat weder als Rechts- noch als Sozialstaat einen schlechten Ruf, sondern galt bspw. bei vielen syrischen Flüchtlingen als primäres Asylziel noch vor der Bundesrepublik. Ich rufe meine Brüder ist also keine Gesellschaftskritik, es ist inhaltlich ein Drama und szenisch überwiegend eine Komödie, man schmunzelt und lacht, die Dialoge sind temporeich und oft komisch, nur selten wird es ernst, der Zwiespalt des Konflikts ist nur mittelmäßig spürbar. Das Fremdsein, die Nichtdazugehörigkeit kommen nicht richtig zur Geltung - wieso Amor fremdelt, erschließt sich nicht. Fast könnte man meinen, es mit einer kafkaesken Geschichte zu haben - der Kern der Geschichte kreist nicht um Integration, nicht um Diskriminierung, sie scheint eine allgemeingültige Bedeutung zu haben, die vom Autor zu wenig herausgearbeitet wird: es geht um Zugehörigkeit.

Was ist zu beachten?
Schon Karl Marx erklärte in einem berühmten Parteimanifest: "Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen", wobei "Klasse" inzwischen als überholter Begriff die Variable in dieser Aussage ist und auf verschiedene neue Bedeutungen gegründet werden kann: wirtschaftlich, ethnisch, national, regional, religiös, politisch, ...... Alle Geschichte ist die Geschichte von Kämpfen zwischen Gruppen mit Zusammengehörigkeitsgefühl. Entsolidarisierung führt gemäß Hobbes' Leviathan zum Krieg aller gegen alle. Wie gelingt breite Solidarisierung, wo sind die Grenzen der Solidarität und was ist, wenn man durch das gängige Raster fällt? Wie ist die Balance zwischen Gemeinschaftsgefühl und Diskriminierung zu justieren? Alle Geschichte ist die Geschichte von Kämpfen zur Bildung oder Unterbindung neuer Fronten. Der Feind steht entweder rechts oder links, oben oder unten, im eigenen oder in einem anderen Land, er sitzt in bestimmter Position oder fordert Einlaß, Einfluß und Macht, er betet zu dem einen, zu einem anderen oder gar keinen Gott. Wer sich benachteiligt fühlt, beschuldigt seine Feinde, wer sich bedrängt fühlt, beschimpft seine Widersacher, wer nicht dazu gehört, fühlt sich ungerecht behandelt. Minderheiten fühlen sich diskriminiert, Mehrheiten reagieren empört auf maßlose Forderungen. Jeder, der sich bekennt oder distanziert, nimmt Teil an der Frontenbildung. Menschen werden ständig reduziert, sie  vereinen sich mit den einen und trennen sich von den anderen, ethnische Gruppen separieren sich, modische Gruppen grenzen sich ab, Fußball-Fans sehen sich in unversöhnlichem Gegensatz, bereits im Kindergarten wollen die einen mit den anderen nicht spielen, die coolen Jugendlichen separieren sich von den uncoolen, die intelligenten von den einfacher gestrickten Mitschülern, die gut aussehenden von weniger attraktiven Zeitgenossen. Ständig werden Menschen nach Aussehen und Lebensumständen beurteilt und in Schubladen gesteckt, keiner der nicht mit gemeinschaftlichen Insignien auftritt, ist davor gefeit: wer fettleibig ist, wer tätowiert ist, wer gepierct ist, wer eine bestimmte Hautfarbe hat, wer eine Krawatte und einen schicken Anzug trägt , wer ein Kopftuch benutzen muß, wer teure Designerkleidung kauft, wer ungepflegt ist, wer bestimmte Berufe ausübt, dicke Autos fährt, eine Überzeugung bzw. Meinung hat - sie kommen alle in eine Schublade und werden schnell abgetan. Man bleibt gerne unter sich. Jede Epoche hat ihre Stereotype, kreiert ihre Feindbilder und grenzt sich von denen ab, die sie als Bedrohung sehen, oder die schwach genug sind, um sie in die Ecke zu drängen, und jeder, der andere in eine Schublade drängt oder legt, nimmt an diesem Spiel teil. Das Ganze geschieht immer und von allen, mehr oder weniger subtil. Alle haben Vorbehalte oder Vorurteile, jede Gesellschaft diskriminiert, gibt es überhaupt jemanden, der keine Ressentiments hat oder im zeitgenössisch vordergründigen Wortgebrauch kein Rassist ist? 

Zitat
Robert Musil formulierte es in seinem Roman 'Der Mann ohne Eigenschaften' folgendermaßen: "Ungemein viele Menschen fühlen sich heute in bedauerlichem Gegensatz stehen zu ungemein viel anderen Menschen. Es ist ein Grundzug der Kultur, daß der Mensch dem außerhalb seines eigenen Kreises lebenden Menschen aufs tiefste mißtraut ..... Schließlich besteht ja das Ding nur durch seine Grenzen und damit durch einen gewissermaßen feindseligen Akt gegen seine Umgebung; ohne den Papst hätte es keinen Luther gegeben und ohne die Heiden keinen Papst, darum ist es nicht von der Hand zu weisen, daß die tiefste Anlehnung des Menschen an seinen Mitmenschen in dessen Ablehnung besteht."
     
Was ist zu sehen?
Gestern war es der große Abend des Jonathan Bruckmeier, der als Amor ständig auf der Bühne steht und mit perfekter Selbstverständlichkeit seine Figur verkörpert. Zwischen Kalauer und Katastrophe, zwischen Verwechslung und Verzweiflung findet er stets den richtigen Ton, erzählend, reflektierend, träumend, wütend, flehend, .... Amors Verhalten ist nicht immer sympathisch, Bruckmeier erreicht dennoch, daß man seiner Figur wohlwollend bleibt. Der innere Aufruhr, die Empörung, das Hineinsteigern bis zur Übertreibung und Überziehung, die Verständnislosigkeit gegen die Ungerechtigkeiten der Welt - Bruckmeier gelingen so viele Nuancen, daß man die Kürze des Stücks und dessen mangelnde Prägnanz bedauert. Bravo! Kongenial ergänzt wird Bruckmeier an diesem Abend durch Florentine Krafft, Marthe Lola Deutschmann und Sven Daniel Bühler mit starken Leistungen.

Fazit: Dem Inszenierungsteam gelingen 70 kurzweilige Minuten indem es die Spielfreude der hochmotivierten und engagierten Schauspieler anzapft - das Zuschauen macht Spaß. Hier gilt: wenn man sehr gute Schauspieler hat, ist es nicht so wichtig, wenn das Stück Schwächen hat.

Besetzung & Team
Amor: Jonathan Bruckmeier
Shavi, Verkäufer: Sven Daniel Bühler
Valeria, Karolina: Marthe Lola Deutschmann
Ahlem, Überwacher, Tyra: Florentine Krafft

Regie: Marie Bues
Bühne & Kostüme: Indra Nauck
Musik: Martin Donner