Dienstag, 19. Juli 2016

8. Symphoniekonzert, 18.07.2016

Die gigantische Missa Solemnis - Beethovens Spätwerk für vier Solostimmen, Chor und Orchester D-Dur op.123 stand auf dem Programm des letzten Symphoniekonzerts der Saison, eine Messe, die von der Aura des Außergewöhnlichen umgeben ist.
 
Viele Jahre Arbeit stecken in der Missa Solemnis, Beethoven verpaßte Abgabetermin, statt eines 45-minütigen liturgischen Werks für einen offiziellen Anlaß, entstand ein fast doppelt so umfangreiches und elaboriertes Werk - liturgische Musik, die kaum in einer Kirche präsentiert werden konnte, "eine Predigt im Theater" nannte sie ETA Hoffmann. Beethoven selbst schrieb handschriftlich in die Originalpartitur: "Von Herzen, möge es wieder zu Herzen gehen!". Ein Bekenntniswerk des Komponisten, für manche auch ein sprödes Werk, denn der religiöse Bekenntnistext ist zum Verständnis erforderlich - sehr schön, daß man am Badischen Staatstheater beim Konzert den Text in Latein und Deutsch einblendete. Die dramatische und komplexe Beziehung zwischen Gott und Mensch - flehend, bittend, andächtig, preisend, dankend, jubelnd - steht im Mittelpunkt der Missa Solemnis, die aufgeladen mit dem Konflikt und der Harmonie zwischen Himmel und Erde, zwischen Irdischem und Überirdischem ist. Der große Dirigent Otto Klemperer sagte zu Beethovens Messe aus Sicht des Musikers: "Es ist enorm schwierig ein Werk zu realisieren, in dem die Realität nicht berücksichtigt wurde." Justin Brown stand vor einer großen Herausforderung, um all das zu modellieren, was vorhanden ist - die Missa Solemnis kann überwältigen, vor allem im Gloria und Credo, sie ist voller Ehrfurcht, Pracht und Mysterien - eine Kombination, die sich nicht selbstverständlich musizieren läßt.

Es gibt elf Abschnitte in der fünfteiligen Struktur (Kyrie - Gloria - Credo - Sanctus - Agnus dei). Die Kyrie-Rufe erklangen zu Beginn noch nicht mit letzten Nachdruck flehend, die Größe Gottes wurde zwar nicht auf Knien ängstlich niederblickend angerufen, der flehende Ruf wurde bei Brown aber auch nicht akustisch nach oben gerichtet, es war vielmehr eine Introspektion - meines Erachtens der einzige Satz, der am gestrigen Abend deutlich mehr Formwillen vertragen hätte. Nach dem jubelnden Gloria in excelsis deo folgte ein zu Beginn flehendes Qui tollis mit einem um Erbarmen bittenden 'Miserere nobis' und starker Steigerung zu den Worten 'Qui tollis peccata mundi'. Quoniam to solus sanctus erklang lobpreisend, Gottes Größe anerkennend, bei Brown ein Satz, der sich ständig selber überbieten will. Ein kraftvolles und überwältigendes Credo in unum deo, Wucht ohne Zweifel und einem allerdings zu beiläufigem, zu wenig geheimnisvoll-mystischem 'ante omnia saecula. Et incarnatus est - das vertonte Mysterium, die unfaßbare Größe des Opfers, die Schwachheit des Fleisches, Flötenklänge symbolisieren Zerbrechlichkeit, ein 'et homo factus est' voller Erstaunen, das 'cruxifixus'  ergänzt durch das 'etiam pro nobis', dessen mystische Unfaßbarkeit ein wenig zu oberflächlich blieb. Et resurrexit - ein Aufschrei, Jubel, Freude Dankbarkeit - die Zäsur, die Rettung ist hörbar. Hatte Beethoven Probleme mit dem katholischen Glaubensbekenntnis? Das Dogma am Schluß des Credo ist musikalisch so komplex und vielstimmig, daß das Wort 'catholicam'  untergeht, der Glaube an die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche hätte Beethoven monolithischer komponiert, wenn er denn gewollt hätte. Ein dankbares und zärtliches Sanctus, von Brown in eine spirituelle Perspektive gerückt, danach ein Osanna in Excelsis, das noch freudiger hätte klingen können Das Benedictus  mit großem Violinensolo, wunderschön musiziert durch die erste Geige -Janos Ecseghy spielte als Solist im Benedictus vor dem Orchester stehend- neue Töne der Lobpreisung, die die Schönheit Gottes feiern. Das abschließende Agnus Dei mit aus Elend flehendem 'Miserere nobis' konnte man als religiös zelebriert empfinden. Der letzte Abschnitt Dona nobis pacem ist ungewöhnlich und endet unvermutet- ein erratischer Satz durch Friedensrufe in vielen Formen. Nicht jedes Detail mag mich überzeugt haben, doch die ca. 60 Musiker der Badischen Staatskapelle und Justin Brown beeindruckten mit einem symphonisch-theatralischen Ansatz zwischen Pastorale und Fidelio. 
Sängerisch gab es viele sehr gute Momente. Welche Karlsruher Stimme kann intensiver flehen als die der wunderbaren Barbara Dobrzanska, Katharine Tier bewies gestern Stimmschönheit, Konstantin Gornys dunkles Fundament erreichte abgründige Tiefe (die aber ein wenig zurückhaltend wirkte), Steve Davislims Tenor glänzte mit höhensicherer Leichtigkeit und deklamatorische Ausdrucksstärke - ein gut zusammenpassendes Quartett.
Der Star ist der Chor! Ca. 110 Sänger hatten Schwerstarbeit - viel Text in ganz unterschiedlichen Nuancen, hohes Tempo, starke Kontraste, große Wirkungen - Bravo! So kurz vor Sommerpause und Urlaub erklang gestern eine starke Missa Solemnis von allen Beteiligten.