Montag, 9. Januar 2012

Auf der Suche nach dem Publikum von morgen: Meinungsumfragen, Zuschauerresonanz und persönliche Erfahrungen

Wer hätte das gedacht, daß das Karlsruher Ballett zur Vorzeigesparte des Hauses werden könnte!?! Birgit Keil hat es geschafft: sie hat zwar nicht Spitzentänzer wie in Hamburg oder Stuttgart zur Verfügung, aber das richtige Gespür für Stoffwahl und Umsetzung. Die Ballettvorstellungen sind nicht nur ausverkauft, das enthusiastische Publikum ist bereit auf den Sitzplatz zu verzichten: es werden in fast nie gesehenem Ausmaß zusätzliche Stehplätze für die ausgebuchten Vorstellungen von Schwanensee, Nußknacker und Siegfried verkauft. Allerdings ist die Stärke des Balletts auch symptomatisch für die Schwäche der anderen beiden Sparten. Wer heute ins Staatstheater gehen will, Inszenierungen weiterempfehlen oder Karten verschenken mag, der ist mit Ballett auf der sicheren Seite.


Seit ca. 5-10 Jahren wird es langsam leerer: Abonnements fallen weg, neue kommen nicht in gleichem Maße hinzu. Die gemischten, spartenübergreifenden Abonnements waren dafür verantwortlich, eine ausgewogene Auslastung in allen Sparten zu haben. Durch die verringerte Abonnentenzahl wird aber das Interesse des breiten Publikums in bisher nicht gesehenem Ausmaß ersichtlich. Wir erleben eine klare Abstimmung über Programmauswahl und Inszenierung: der freie Verkauf füllt nur dann die Lücken, wenn das Stück ankommt, die Mund-zu-Mund Propaganda funktioniert oder es sich um ein namhaftes, bekanntes Werk handelt. Resultat: das Ballett ist überbucht, im Musiktheater sorgen Verdi und Offenbach für die Besucher, im Schauspiel interessanterweise keine Theaterstücke, sondern das Musical Big Money aus der letzten Spielzeit und vielleicht zukünftig die Musik-Show Dylan.

Wer ist denn überhaupt das Karlsruher Publikum? Wer sind die Zuschauer von morgen? Und wie gewinnt man diese für die Sparten des Staatstheater? Einige dieser Fragen könnten demnächst ausführlicher beantwortet werden: im Verlauf des Jahres 2011 wurden im Frühsommer und Spätherbst von der neuen Intendanz Umfragen zur Analyse des Karlsruher Publikums in Zusammenarbeit mit der Universität Berlin initiiert. Daran ist nichts Neues: erst wird der soziologische Hintergrund analysiert, um dann die Formen der Ansprache zu bestimmen: Das Marketing beginnt erst, wenn die Zielgruppe bekannt ist.  Man kann nur hoffen, dass das Staatstheater die Ergebnisse der Umfrage veröffentlicht und transparent die Schlußfolgerungen offenlegt.

In einem BNN Interview sowie einem SWR Gespräch gab Herr Spuhler bereits erste Analysen: mehr Junge, mehr Akademiker, mehr Migranten sollen zukünftig das Publikum ergänzen, denn diese fehlen deutlich.
Es ist wenig überraschend, dass der ermittelte Altersdurchschnitt der Besucher deutlich höher als der Bevölkerungsdurchschnitt liegt. Wer Beruf und Familie unter einen Hut bringen muß, hat abends meistens anderes vor, als erschöpft und müde seine Aufmerksamkeit fordern zu lassen.
Es fehlen laut Spuhler Akademiker und Migranten. Beides überrascht nicht: Karlsruhe und sein Umland (denn das darf nicht vergessen werden: Karlsruhe-Land hat mehr Einwohner als das eng begrenzte Stadtgebiet von Karlsruhe und beide sind mit über 700.000 Einwohner eine „kleine Metropole“, wie es Herr Spuhler so treffend nannte) hat einen hohen Anteil an Ingenieuren und Wissenschaftlern, die –wenn ich mein persönliches berufliches Umfeld anschaue– anscheinend nur eine sehr geringe Affinität zu Theater oder Oper haben.
Migranten in Karlsruhe scheitern im Theater am sprachlichen Anspruch oder es fehlt ihnen – wenn sie länger in  Deutschland sind– einfach der Bezug und die Tradition. Als vor einigen Jahren Opern auf Russisch (Glinkas Ruslan und Ludmilla und Borodins Fürst Igor) aufgeführt wurde, fiel mir tatsächlich auf, dass im Publikum oft russisch gesprochen wurde. Ebenso kürzlich bei Tschaikowskys Nußknacker. Was wäre dann notwendig: eine hochwertige Opernreihe russischer Meisterwerke und Tschaikowskys Dornröschen zur Integration dieser Gruppe?

Gesellschaftliche Relevanz bezeichnet Spuhler in der BNN als Kern seines Intendanzverständnisses.  Hier wäre für die BNN der Ansatzpunkt, das Interview fortzusetzen, denn was ist nicht gesellschaftlich relevant? Oder anders ausgedrückt: in welcher Hinsicht ist Tschaikowskys Schwanensee gesellschaftlich relevant? Als Vorstellung, die an mehreren Abenden  über 1000 Zuschauer anzieht! Den Begriff der gesellschaftlichen Relevanz gilt es zu konkretisieren, mag er nicht als Worthülse für Zuschauerakzeptanz gelten.

Nach wenigen Monaten hat man noch nicht den Eindruck einer stringenten und homogenen Strategie der neuen Intendanz. Im Opernbetrieb spricht man mit ambitionierter Auswahl eher die Kenner und Liebhaber an: wenig Bekanntem (Verdi, Offenbach) steht wenigen Bekanntes (Janacek, Berlioz, Delius, Tüür) gegenüber.
Bezüglich der Inszenierungen ist die neue Schauspielführung an der Stufe vom Heidelberger zum Karlsruher Theater ins Straucheln gekommen. Bisher sind Anspruch und Realität noch zu weit auseinander, um von einem geglücktem Wechsel zu sprechen und es ist keine Inszenierung gezeigt worden, von der man noch lange sprechen wird. Der frühere Schauspielchef Knut Weber hatte auch in seinen schwächeren Spielzeiten 1-2 Erfolgsinszenierungen, die man weiterempfehlen konnte und einen hohen Zuschauerzuspruch hatten. Davon kann Jan Linders bisher nur träumen, der große Wurf blieb ihm bisher versagt. Man hat den Eindruck, daß das Spielzeit Motto „Von Helden“ eher hinderlich als hilfreich war. Das ist umso bedauerlicher als man wirklich sehr gute Schauspieler nach Karlsruhe engagiert hat und das  Ensemble stärker wirkt als in der Vergangenheit.
Loben muß man die Bemühungen um den Nachwuchs: ein Kinder- und Jugendtheater ist wichtig, um das Selbstverständnis (die Kinohaftigkeit) des Besuches zu stärken, allerdings ist das eine langfristige Taktik. Auch die Öffnung des Theaters durch Volkstheatergruppen ist ein positiver Aspekt, um das Staatstheater gesellschaftlich weiter zu verankern.

Ein Blick zurück: man war im Karlsruher Staatstheater lange Zeit auf der Insel der Seligen. Der 1975 eröffnete Neubau löste einen Boom aus: Sehr viele Abonnements wurden verkauft, deren Besitzer nutzten sie über Jahrzehnte. Während andere Häuser mit mittelmäßigem Besuch leben mussten, war es schwierig überhaupt Plätze für Karlsruhe zu bekommen. Als ich vor ca. 20 Jahren als Student  begann, Oper und Theater in Karlsruhe für mich zu entdecken, waren spontane Besuche oft nicht möglich: es war ausverkauft oder ich saß am Rand oder im Rang. Schon damals fühlte ich mich fast immer als mit Abstand jüngster Besucher: ich war bei meinem Hobby umgeben von einem Altersdurchschnitt, den ich auf ca 50+ Jahre schätzte. Meine Versuche Freunde oder Mitstudenten als Begleitung zu gewinnen zeigten nur geringe Resonanz: eher noch Theater, seltener Oper (die grundlegend ein Faible für klassische Musik erfordert) – beide Kunstformen hatte für die Twens der 1990er etwas zu Ernstes, Erwachsenes, Reifes, Altes oder Unzeitgemäßes. Es wurde erst mit zunehmenden Alter und Altersdurchschnitt für mich einfacher, regelmäßig Begleitung zu finden. Ich organisierte Besuche mit Berufskollegen und Freunden, meistens ins Theater und bevorzugt in Komödien. Der frühere Schauspielintendant Knut Weber sorgte für unvergessliche Abende mit Außer Kontrolle (2002), Der Diener zweier Herren (2003), Die Grönholm Methode (2005), Sommernachtstraum (2006), Gott des Gemetzels (2007), Die Panik (2008), Was ihr wollt (2008), Cabaret (2010) und zuletzt Big Money (2011). Trotzdem gingen von meinen Begleitern nur sehr wenige später auch eigeninitiativ ins Theater. Keiner davon hat ein Abonnement abgeschlossen. Zum einen wurden berufliche und familiäre Belastungen als Gründe angegeben, zum anderen Desinteresse an den Themen anderer Stücke. Ich sprach also zwei der drei neuen oben genannten Zielgruppen über die letzten 20 Jahre regelmäßig an: Junge und Akademiker, leider nur mit mäßigem Erfolg.

Durch die Rückmeldung der Gelegenheitsbesucher konnte ich allerdings einige Erkenntnisse über sie sammeln: In Zeiten des Weg-Zappens sind manche nur bedingt bereit, sich zu langweilen oder sich geduldig einem scheinbar nicht stimulierenden oder stark fordernden Erlebnis auszusetzen. Problematisch wurden gewisse Inszenierungsstile gewertet, bei denen sich durch Verfremdungseffekte ein Gefühl der Ratlosigkeit, der Überforderung und dann des Desinteresses ergibt. Verallgemeinernd würde ich behaupten, daß eine spürbare Distanz des innerlich erlebten zum Geschehen auf der Bühne frustriert, demotiviert und eine positive Beurteilung verhindert.

Zusätzlich gibt es soziologische und mentale Aspekte zeitgenössischen Verhaltens, deren Ursachen in diesem Rahmen von mir nicht zutreffend analysiert werden können: der zweifelhafte Stellenwert sogenannter „Bildung“, der anscheinend schwierige Zugang zu zeitlich lang Aufmerksamkeit fordernder klassischer Musik, die Beeinträchtigung visueller Phantasie durch das Medium Film, die mangelnde Tradition und Routine des Besuchs und damit unklare Erwartungshaltung an eine Vorstellung, die scheinbar primär Event- und/oder Geselligkeitscharakter haben soll und als Live-Alternative zum Kino gilt. Das sind Zeit- und Generationen-typische Verhaltensmuster, die sich ändern können, ohne daß man sie beeinflussen kann. Man kann aber einen gewissen Traditionsabriss feststellen: wer neu als Besucher kommt, wird an das Metier herangeführt werden müssen, und zwar nicht nur durch interessante Einführungen vor der Vorstellung, sondern auch durch entsprechende Inszenierungen.

Wer ist das Publikum der Zukunft? Peter Spuhler betonte vollmundig beim Theaterfest, daß alles, was gemacht wird um des Zuschauers Willen geschehe und blickte dabei bestätigend in den Zuschauerraum zum Stammpublikum. Wenn also die Umfrage das Ergebnis liefert, dass vor allem ältere Zuschauer das Staatstheater besuchen, dann müsste er konsequenterweise den Fokus seiner Produktionen auf diese Altersgruppe legen!? Herr Spuhler weiß, daß er das Stammpublikum halten muss, aber daran gemessen wird, mehr Zuschauer zu gewinnen.

Wer kann also die neue Zieglruppe sein? „Maximal offen“ will man laut Spuhler sein und alle sozialen Schichten ansprechen. Kommen deswegen auch alle? Gibt es nicht soziologische Wahrscheinlichkeiten, wer und ab welchem Alter man sich zum Besucher eignet? Nach meinen oben erläuterten Erfahrungen sind die meisten Zuschauer (ob Einzelkarte oder Abo) in einem Segment zu gewinnen, das älter als 40 Jahre ist.

Und wie müssen Produktionen beschaffen sein, damit die Zuschauer wieder kommen? Wie lockt man Konsumenten? Erfolgsgeschichten sind vorhanden, das Ballett macht es vor! Birgit Keil hat ihr Publikum bereits gefunden. Die ausverkauften Vorstellungen sind vielsagend! Die Zuschauer strömen zu La Traviata und Rigoletto. Das Publikum erreicht man mit den üblichen Verdächtigen. Im Theater lieferte Knut Weber regelmäßig Zuschauererfolge, man denke nur an die sechs Spielzeiten lang aufgeführte Grönholm-Methode und zuletzt Big Money. Es mag nicht jedem gefallen, aber es scheint als würden ein gewisser Anteil der Stückauswahl und Inszenierung konventioneller werden müssen, um neue Zuschauer zu gewinnen.

Neues Publikum zu gewinnen hat auch deshalb Priorität, da sich die Bevölkerungsstruktur verändert. Welche unerfreuliche Zukunft könnte uns angesichts der demographischen Entwicklung bevorstehen: ein 3-Sparten Staatstheater des Landes Baden-Württemberg, das abwechselnd die Spielstätten des Landes besucht nachdem die Einzelhäuser in Karlsruhe, Stuttgart, Mannheim etc. zusammengelegt wurden?

Alle Ballett-/Theater- und Opernfreunde sollten sich auch darüber im Klaren sein, daß es noch erschreckend viele neoliberal geprägte Ressentiments gegen das staatlich geförderte Kulturleben gibt. Deren Anhänger warten nur darauf Budgets zu kürzen und Kosten zu Ungunsten der Zuschauer neu zu verteilen. Die Folge wäre eine Refeudalisierung des Kulturbetriebs, bei dem sich nur noch ein wohlhabender Bevölkerungsanteil regelmäßig Eintrittskarten leisten könnte.

Umso weniger regelmäßige Zuschauer in den Vorstellungen, umso geringer die Akzeptanz in der Bevölkerung desto größer die Gefahr von Einschnitten in den Kulturhaushalt. Es benötigt eine konstruktive Zusammenarbeit von Zuschauern und Staatstheater, um den Stellen- und Unterhaltungswert der Kunst zu definieren und zu fördern. Ich bin gespannt, was die Karlsruher Intendanz in die Wege leitet.

3 Kommentare:

  1. Vielen Dank für Ihre Betrachtungen. Meine Frau und ich sind zwar erst die vierte Spielzeit Inhaber des Schauspielpremieren-Abonnements, können Ihrer Analyse der bisherigen Spielzeit aber zustimmen. Gerade im Schauspiel liegt der mäßige Erfolg nicht an den Schauspielern sondern an der Stückauswahl und den Inszenierungen. Gerade die von Spuhler vermissten gebildeten Zuschauer werden mit langweiligen und/oder albernen Inszenierungen wie der Minna oder dem Fiesco nicht zu erreichen sein.

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  2. Meiner Erfahrung nach kommen die jüngeren Besucher ganz von alleine, wenn es a) eine Struktur gibt zum gemeinsamen Besuch, wie ein Jungend-Club, o.ä. (siehe z.B. die meterlangen Schlagen von Studenten an den Berliner Abendkassen oder die Jungen Opernfreunde Hamburg mit weit über 100 Mitgliedern) und wenn b) Kunst gemacht wird: keiner, auch keine Ü-30-jährigen wollen schlechte Produktionen sehen. Bunt und modern kann genauso verstaubt sein, wie eine klassisch gehaltene Inszenierung. Es kommt doch immer drauf an, dass eine Produktion eine Botschaft hat und den Zuschauer in irgendeiner Weise berührt.

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  3. VIELEN DANK für die sehr guten Beiträge! Den Opernwelt Artikel kannte ich nicht, aber er detailliert noch mal meine Befürchtungen. Immerhin scheinen wir in Karlsruhe eine Intendanz zu haben, die sich dieser Herausforderung bewußt ist. Ich hoffe zumindest, dass die Zuschauerumfragen zu entsprechenden Schlußfolgerungen und Aktionen führen.

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