Donnerstag, 3. Oktober 2013

Schiller - Kabale und Liebe, 02.10.2013

Klassische Texte sind für Regisseure eine besondere Herausforderung: Viele Klassiker haben den Lauf der Zeit nicht unbeschadet überstanden, ihre Sprache benötigt spezielle Sorgfalt, das Publikum hat diffuse Erwartungen und man muß die undefinierte Mitte zwischen Texttreue und Aktualität treffen. Alle Klippen lassen sich in der Regel nicht umschiffen. Und gestern? Endlich konnte man sich mal wieder über eine sehr gute, sehr spannende, aktuelle und zeitgemäße Premiere von Kabale und Liebe freuen, die zu Recht von der überwiegenden Mehrheit des Publikums starken und langen Applaus bekam und die man möglichst vielen weiterempfehlen sollte!



Worum geht es?
Primär um den Kampf für persönliche Freiheit und gegen Standesschranken und absolutistische Tyrannenmacht, gegen Willkür und Machtzynismus. Schiller entwirft mit starken Hell-Dunkel Kontrasten ein klares Szenario um gute und böse Figuren. Der junge adlige Präsidentensohn Ferdinand ist in die bürgerliche Musikertochter Luise verliebt, doch sein Vater will, daß er Lady Milford, die Geliebte des Fürsten heirate, um die familiäre Machtposition zu stärken. Als Ferdinand sich weigert, setzt die Intrige (Kabale) ein. Luises Eltern werden eingekerkert. Um sie zu retten, muß sie in einem erzwungenem Brief die Liebe zu einem anderen gestehen. Die manipulierten Liebenden werden dadurch entzweit; der eifersüchtige Ferdinand fällt schnell auf die Lüge herein. Er wendet sich aber nicht der vom Vater vorgesehenen Braut zu, sondern tötet Luise und sich selber. Sterbend wird das Lügenkonstrukt aus Drohungen und Verrat von Luise zu spät aufgedeckt.
    
Es geht also um die großen, ja übergroßen Gefühle. Die heutige Beliebtheit von Kabale und Liebe gründet auf dieser quasi melodramtischen und auf Spannung und Höhepunkt ausgelegten Qualiät eines Hollywood-Drehbuchs. Schiller ist in Kabale und Liebe parteiergreifend und ausdrucksstark, sein Chiaroscuro überdeutlich: Ferdinands böser Vater ist nur auf seine Macht bedacht, sein niederträchtiger Handlanger heißt Wurm. Die Figur des Hofmarschalls von Kalb ist für Schiller eine lächerliche Figur. In der Regieanweisung zu seinem ersten Auftritt lässt er ihn in einem "geschmacklosen Hofkleid", mit "großem Gekreisch auf den Präsidenten zu fliegen" und "einen Bisamgeruch über das ganze Parterre" ausbreiten (auf Geruchsregieanweisungen trifft man selten; zum Glück werden sie nie umgesetzt). Später erfährt man, daß von Kalbs Intimfeind von Bock heißt. Der Rokoko-Adel wird von Schiller ins Lächerliche gezogen. Die Regisseurin Martina Blattner übersetzt dies in der Karlsruher Inszenierung auf geschickte und passende Weise für unsere Zeit (mehr dazu später). Wer befürchtet, sich im Theater unter seinem Niveau zu amüsieren, den kann man entlasten: bei Kabale und Liebe darf gelacht werden!

Zeitgemäß?
Das waren noch Zeiten, als man eine Katharsis und Veredelung des Menschen im Theater erreichen wollte. 1784, fünf Jahre vor der französischen Revolution schuf Schiller seine Kritik an der Ständegesellschaft, bei der seine Figuren bereits auf dem brodelnden Vulkan der Revolution stehen, aber noch nicht gegen die bestehenden Mächte ankommen, sondern schnell entzweit werden. Kabale und Liebe ist schon lange nicht mehr skandalträchtig, die gesellschaftlichen Grundlagen haben sich zu stark geändert, als daß man es in eine sinnvolle Form von Zeitgemäßheit pressen kann - weder als Sturm und Drang Drama des jugendlichen Aufbegehrens noch als Gesellschaftskritik erscheint es heute relevant. Wie bei Romeo und Julia endet Schillers Stück mit einem toten Liebespaar, das durch ihre Familien getrennt wurde. Doch wo Shakespeare Trauer und Mitgefühl erregen will, steht bei Schillers Intrigenstück die Wut und das Unverständnis über Machtkalkül und Standesdünkel im Vordergrund. Wie soll man diese Wut ins Heute übersetzen? Die Regisseurin verzichtet darauf und wenn man etwas kritisieren möchte, dann das der Schiller'sche Furor heute nicht wiedergefunden wird. Kabale und Liebe endet in Karlsruhe nicht in wütender oder deprimierender Trostlosigkeit, sondern fast schon in einer traurigen Lakonik einer unerwarteten und damit unabwendbaren Überreaktion des eifersüchtigen Ferdinand, die vielleicht einigen zu wenig kontrastiert mit der oben beschriebenen Lächerlichkeit

Zeitlose Aktualität findet sich jenseits des historischen Gewands dort, wo man sie in Karlsruhe gestern vielleicht noch ein wenig stärker hätte suchen sollen: Kabale und Liebe ist ein Stück über die destruktive Kraft des Zynismus, bei dem die meisten Protagonisten für andere nur Mittel sind und nie Zweck. Sie werden rücksichtslos benutzt, um zum Ziel zu gelangen. Schillers Aussage scheint hier ein direkter Vorläufer von Karls Marx' Satz zu sein, "daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist". Schön wäre es also gewesen, wenn ein Publikum den Eindruck mitnimmt, daß Freiheit und Selbstbestimmung nicht selbstverständlich sind. Ein Eindruck, der gerade auch heute tagespolitisch sehr wertvoll wäre, da man bspw. in den USA, Großbritannien, Russland, China, Türkei etc. die Bürgerrechte beschneidet, die Presse einschüchtert, das Internet überwacht, Minderheiten stigmatisiert, Religion zur einschüchternden Gesellschaftskontrolle mißbraucht und autoritäre Strukturen restaurieren will. Die politische Komponente ist aber für diese Inszenierung nebensächlich. Blattner kürzt den Text und eliminiert auch wichtige Szenen, wie z.B. die zwischen Milford und dem Kammerdiener, in der der Bediente mit der Verzweiflung des verhinderten Revolutionärs erzählt, daß der Fürst seine Söhne an die britische Armee zur Verschiffung nach Amerika verkauft hat. Überhaupt wird das politische Element, das Kabale und Liebe stärker noch als Die Räuber zu einem Anti-Tyrannen-Stück macht, zugunsten des Familien- und Liebesdramas beiseite geschoben.
    
Was ist zu sehen?
Es bleibt Geschmackssache, ob Regisseurin Simone Blattners Stil besser als minimalistisch oder defizitär zu beschreiben ist. Nachdem vor zwei Jahren Minna von Barnhelm einen sehr spielfreudigen und originellen Eindruck hinterließ, folgten mit Amphitryon und Dantons Tod zwei nicht zündende und sogar praktisch funkenfreie und lahmende Inszenierungen. Auch gestern reduzierte sie, strich den politischen Wut-Aspekt, verstärkte den satirischen Teil und konzentrierte sich auf die Liebesgeschichte - und die Balance stimmte: von der idyllischen Hausmusikszene zu Beginn im winzigen Bürgerhaus bis zum Doppeltod am Ende waren es knapp drei Stunden, die wie im Flug vergingen. Bühne, Kostüme und Musik ergänzen sich passend und sinnvoll.

Alle Figuren erhalten ein Profil, alle Schauspieler zeigten eine starke Leistung und viel Spielfreude, bei allen wird Schillers Sprache lebendig! Schon vorab konnte man ja das Plakat mit Sophia Löffler und Thomas Halle bewundern und gestern zeigte sich, daß die beiden nicht nur visuell ein sehr schönes und attraktives Paar sind, sondern auch auf der Bühne sehr gut harmonieren und zu Beginn als enthusiastisches, frisch verliebtes Paar fast schon ansteckend wirkten. Halle spielt den Ferdinand nicht vorrangig als gekränkte Trotzfigur, sondern als jungen Verliebten, den die Eifersucht mit nie gekannter Kränkung überwältigt. Sophia Löffler glänzt bei dem Spagat zwischen jugendlicher Liebe und realitätsbewußtem Verantwortungsgefühl und ihr gelingt,  Luise -die von Schiller mit schwierig zu interpretierenden Text zwischen Jugend und Reife ausgestattet wurde- stets Glaubwürdigkeit zu verleihen.

André Wagner spielt den Präsidenten großartig als überdrehtes Alpha-Tier mit Alec Baldwin Frisur - ein grober Großkotz, der sich nie zu verstellen brauchte und der stets als Selbstdarsteller seiner Gefühle agiert: skrupellos, korrupt, ohne jedes moralisches Pflichtbewußtsein, rücksichtslos um Machterhalt bedacht. Ferdinand ist für ihn nur Mittel, nie Zweck. Für die Drecksarbeit hat er den viel subtileren und raffinierteren Sekretär Wurm. Simon Bauer spielt ihn zurückhaltend und still, geschmeidig und nie laut werdend. Eine buchstäblich farblose Figur, die aus dem Hintergrund seine Fäden zieht.

Ronald Funke gibt den Hofmarschall von Kalb als alten Schwätzer im Möchtegern-Playboy Outfit reicher Sechzigjähriger. Blattner transportiert also das Lächerliche des Rokoko-Adels in unsere Zeit im Gewande einer Schicki-Micki-Klasse voller Anmaßung. Auch Lady Milford gehört dazu. Mit Agnes Mann als Gast hat man sich für diese Rolle eine richtige Verstärkung geholt, die bei der Premiere Szenenapplaus bekam. Lady Milford ist hier ein verlebtes und affektiertes High Society Mitglied zwischen Dünkel und Selbsterkenntnis, die von den finanziellen Zuwendungen ihres Liebhabers abhängt. In einer der stärksten Szenen schreibt sie einen Abschiedsbrief an ihn, doch so wenig, wie sie sich vor 230 Jahren von ihrem adligen Stand loslösen konnte, so wenig schafft sie heute den Absprung vom Luxusleben.

Auch Frank Wiegard als Miller und Lisa Schlegel in der kleinen  Rolle als Mutter bleiben unverwechselbar und geben ein sehr schönes streitendes Ehepaar.
   
Fazit: Nicht verpassen! Nach den so enttäuschenden und vertanen Chancen der letzten Spielzeit meldet sich das Karlsruher Schauspiel endlich mal wieder mit einem Lebenszeichen zurück. Bei Kabale und Liebe ist eine sehr gute und vor allem spannende, kurzweilige und unterhaltsame Umsetzung gelungen über die man im positiven und konstruktiven Sinne diskutieren kann; alle Schauspieler haben ein dankbares BRAVO! verdient.
 
Besetzung & Team 
Ferdinand: Thomas Halle
Luise: Sophia Löffler
Miller: Frank Wiegard
Millerin: Lisa Schlegel
Präsident: André Wagner
Wurm: Simon Bauer
Kalb: Ronald Funke
Lady Milford: Agnes Mann

Regie: Simone Blattner
Bühne: Alain Rappaport
Kostüme: Sabin Fleck
Musik: Christopher Brandt

5 Kommentare:

  1. Lieber geheimnisvoller Blogger und Theaterfreund,

    mir hat die Inszenierung, die Sie so loben, absolut nicht behagt. Sie ist in wesentlichen Teilen sogar das Drama entstellend, insbesondere was die Figur der Lady Milford betrifft. Auch sonst gibt es eine Menge Unstimmigkeiten bei dieser aufgesetzten Modernisierung und dem unsinnigen Umbau eines "Trauerspiels" zur Komödie, welche streckenweise sich zum blanken Klamauk entwickelt. Aus Verärgerung über diese Veralberung Schillers habe ich sogar eine Kritik verfasst, die Blattners Unerträglichkeiten benennt und meine Wahrnehmung begründet. Da diese aber rund 6500 Zeichen hat (zwei DIN A 4 - Seiten, einzeilig) passt sie nicht in dieses Kommentarfeld. Was tun?

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    1. Guten Abend und vielen Dank für Ihre Nachricht, über die mich sehr gefreut habe und die ich bereits ein wenig erwartet habe, denn ich war mir sicher, daß sich Widerspruch zu Blattners Inszenierung bei aufmerksamen Schiller-Lesern einstellen sollte.
      Tatsächlich kann ich die Zeichenanzahl bei Kommentaren anscheinend nicht vergrößern. Mein Vorschlag: unterteilen Sie Ihre Kritik in bspw. vier bis fünf Abschnitte, benennen Sie sie dann TEIL1 etc und schicken Sie mir hintereinander in Einzelteilen. Nur so kann Ihr Text als zusammenhängende Kommentarfolge angezeigt werden.
      Vielen Dank im Voraus für Ihre Mühe!

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  2. Teil 1

    Kritik zu „Kabale und Liebe“ nach F. Schiller
    am Badischen Staatstheater Karlsruhe 2013/14

    Premiere: 2.10.2013

    Großer Anspruch – misslungene Umsetzung

    Das Programmheft erhellt dem Leser die zentralen Absichten der Inszenierung: Schillers machtvolle Sprache solle herausgearbeitet werden, die oft „Sprache der Gewalt“ sei und Egoismen verfolge sowie Demütigungen aller Art produziere. Die Figur Luise transportiere Schillers Utopie von der Gleichheit der Menschen, welche bis heute nicht verwirklicht ist und somit das Drama heute noch immer dem Zuschauer ermögliche, von einer besseren Zukunft zu träumen. Verweise auf Thesen des Philosophen Erich Fromm und der Soziologin Eva Illouz untermauern die Brüchigkeit der romantischen Liebesvorstellung in einer kapitalistischen Gesellschaft, ja sogar deren verführerische Gefährlichkeit, „[...] weil sie die tiefgreifenden Ungleichheiten im Herzen der Geschlechterverhältnisse zugleich verschleierte und in ein schöneres Licht rückte.“

    So weit, so gut. Nun beschloss die Regisseurin Simone Blattner allerdings, dass der Ständekonflikt seines historischen Kontextes enthoben und als subtile Standesgrenzen bei der Partnerwahl entpolitisiert wird. Luise muss irgendwie jetztzeitiger wirken und sich in Schlagerwelten ein wenig vergessen können. Ähnlich ergeht es den anderen Figuren. Der Verdacht drängt sich mir auf, dass sich Blattner mit dem Verständnis der Entstehungszeit und Autorenabsicht, genauer mit deren Vermittlung auf der Bühne nicht abmühen möchte. Daher setzt sie auf die Betonung des Teenagerdramas und quält eine Modernisierung hervor, welche die Schauspieler Texte sprechen lässt, die andauernd im Widerspruch zu den „Regieeinfällen“ stehen.

    Der Doppeltod des Liebespaares wirkt unlogisch, weil Luises (Sophia Löffler) feste Eingebundenheit in die religiösen Normen genauso unterschlagen wird wie die Korrumpierbarkeit des vermeintlich ehrbaren Vaters. Der Umbau eines Trauerspiels zur Komödie gerät zu einer Schiller unangemessenen Peinlichkeit.

    Die falschen Töne bei der Hausmusik der Familie Miller bereits zu Anfang stimmen somit auf eine Vielzahl von Fehlern, Verfälschungen und Entstellungen ein, die weder dem Schillerschen Personal noch dem politischen und religionskritischen Anspruch des Dramas gerecht werden.

    Die Textinhärenz wird durch Gags aller Art unterlaufen, die Figuren und deren Tragik der Lächerlichkeit preisgegeben, denn das Publikum soll lachen dürfen. (Blattner macht das gern, wie man aus anderen Kritiken erlesen kann, angeblich um durch Komik den Raum für ernsthafte Passagen zu schaffen.) Höhepunkt dieses Regiestils ist die Rollenanlage der Lady Milford, der Gastschauspielerin Agnes Mann anvertraut. Sie bietet in dieser Inszenierung eine Klamauknummer im Stile des TV-Improvisations-Theaters „Schiller[sic!]straße“. Einziger Szenenapplaus für soviel übermäßiges Engagement.

    Lady Milford, eine Dame „fürstlichen Geblüts“ mit entsprechender Sozialisation und Lebensweise, stolpert hier unsicher in hohen Absätzen und glitzernden Kleidern herum. Ziemlich unglaubwürdig. Von sich selber angeekelt und offenbar empathiearm (Die Kammerdienerszene wurde gestrichen!) hüpft sie schließlich als personifizierter Tafelschwamm, die kalkulierten Lacher kommen prompt schenkelklopfend, mit ihrer prächtig gekleideten Vorder- und Rückseite an einer Wand entlang, um eine Kreideschrift von ihrer Hand wieder auszulöschen. (Ach, ich vergaß: Artistik und Akrobatik sind die derzeitig beliebtesten Bühnenmittel in Karlsruhe, kaum noch zählbar die Steilwände und Schrägböden, über die Schauspieler turnen.)

    Fortsetzung: s. Teil 2

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  3. „Kabale und Liebe“, Teil 2

    Da verleibt sie sich sogar ihren Schmuck wieder ein, den sie zuvor verächtlich wegwarf. Bei Schiller ist das Verschenken des Schmucks eine Befreiung und ein Neuanfang in bürgerlichen (meint ehrbaren) Verhältnissen. Völlig gestrichen: ihre erstaunliche Wandlung im politischen Kontext des Soldatenhandels und der Herrscherwillkür. Diese clowneske Darbietung als Lady Milford lässt Luises neu gewonnene Stärke verblassen (kaum zu Hause hört diese zuerst wieder einfache Schlagermusik) und überbietet an peinlicher Emotionsfülle die weltfernen Schwärmereien und den Egoismus Ferdinands.

    Ferdinand schenkt Luise romantische Liebesromane, in denen fiktiv die Standesgrenzen durch die Liebe überwunden werden kann, um sie ideologisch in seine erträumten Bahnen zu ziehen, was der gesprochene Text auch verdeutlicht; die Mutter hält stolz ein Kochbuch in die Höhe. Ha, da lacht der unaufmerksame Zuschauer.

    Vater Miller (Frank Wiegard) und Ferdinand (Thomas Halle) liefern sich noch schnell ein sinnlos albernes Reimduell beim Warten auf die Limonade, welche Ferdinand gleich vergiften wird, um sich und Luise zu töten.

    Von Kalb (Ronald Funke) erzählt Präsident von Walter (André Wagner) von seinem stressigen Morgen; trotz aller Widrigkeiten war er dennoch der erste beim Lever. Die „Modernisierung“ des Textes in eine unkonkrete Gegenwart vernichtet Schillers scharfe Hofkritik und rettet sich nur durch eine erfundene Taxifahrt als Lösung der misslungenen „Vergegenwärtigung“ ins Banale. Die spätere „Strumpfbandepisode“ passt dann vollends nicht mehr in die dargestellte Bühnenwirklichkeit.

    Manchmal allerdings entlarven Lacher an unerwarteter Stelle auch, was schief gelaufen ist. So z. B. als Ferdinand sich als (äußerst manierenloser) „Sohn des Präsidenten“ dem Zuschauer zu erkennen gibt.

    Luise, „Verbrecherin, wohin ich mich neige“ (leider gestrichen, denn soviel Selbsterkenntnis und religiöse Eingebundenheit wollte Blattner dem Mädchen nicht zugestehen), schreibt großräumig und hastig den aufgenötigten Brieftext auf den Bühnenboden. Ihre innere Not, die Entehrung und die ungeheure Unterdrückung durch Wurm (Simon Bauer) kommen so nicht gut zum Ausdruck. Hatte der Bühnenbildner (Alain Rappaport) das überschmale Elternhäuschen nicht genau dafür gebaut, um die Kleinheit der Verhältnisse und das Ausgeliefertsein an die einengenden Machtstrukturen vor Augen zu führen?

    Natürlich darf Theater kürzen, solange es keine erheblichen Entstellungen produziert, es darf modernisieren, wenn es Sinn ergibt und für den Zuschauer nachvollziehbar ist, es darf historisch Fernes erläutern und sprachlich Schwieriges vereinfachen, wo es nötig erscheint.

    Eine Inszenierung, die dadurch alledings nicht vermitteln kann, warum Schiller für Deutschland eine solche Bedeutung hat, ist eine entbehrliche.
    Wenn übermütige künstlerische Selbstgefälligkeit tradierte und gut belegte Textinterpretation ignoriert und, schlimmer noch, sogar veralbert, ist einem seriösen Theater nicht gedient. Oder geht es nur noch darum, das Haus irgendwie voll zu kriegen?

    Dann gebietet es die Fairness, künftig bei ähnlich angelegten Produktionen für das sachkundige Publikum gleich den ehrlichen Hinweis ins Programm zu drucken: „Kabale und Liebe“ - Eine Umdeutung von Simone Blattner unter Verwendung von Motiven F. Schillers.

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    1. Vielen Dank für die ausführliche Analyse, die ich sehr gut nachvollziehen kann.

      Das Programmheft finde ich übrigens sehr dubios. Schon im Vorhinein versuchte das Badische Staatstheater die Relevanz und Aktualität des Stücks durch die schlecht konstruierte Behauptung zu retten, daß "soziale Herkunft, Bildung und Einkommen durch unsere Gesellschaft unsichtbare Grenzen" ziehen, "die weiterhin die Freiheit der Liebe in Frage stellen". Der Inszenierung gelingt es nicht, diese Aussage hinsichtlich der angeblich nicht gegebenen Freiheit der Liebe zu bestätigen und das Badische Staatstheater lockt sein Publikum damit auf die falsche Fährte.

      Ebenso schwammig bleibt der Vergleich der starren Ständegesellschaft mit der mobilen Jetztzeit. Intelligenz, Aussehen, Vermögen, also genetisches und familiäres Glück prägen zwar die Unterschiede in unserer Zeit und ziehen Grenzen, sind aber in keiner Weise vergleichbar mit damals. Wenig fruchtbar erscheint es deshalb, das Konzept dieser Inszenierung auf der diskutablen Stilblüte zu gründen, daß Grenzen uns eingrenzen obwohl sie als Freiheitsgrade auftreten ("Zwar erscheinen uns diese Grenzen nicht mehr als Zwang von außen, sondern als größere Freiheit an Auswahl und Entscheidungsmöglichkeiten, dennoch grenzen sie uns ein, sorgen dafür, dass wir nicht unter unserem Bildungsniveau heiraten, dass wir innerhalb unseres Milieus bleiben ....").

      Und überhaupt: feudaler Stand oder marxistische Klasse? Hauptsache das schicke Wort Kapitalismus fällt in kritischen Zusammenhang: "Der Präsidentensohn ist gänzlich in eine kapitalistische Logik eingespannt". Doch für Ferdinands fehlgeleitete Liebesbemühungen ist nicht sein Aufwachsen in kapitalistischen Verhältnissen schuld und man macht es sich zu leicht, wenn man die diagnostizierten zwischenmenschlichen Symptome auf einige wenige Ursachen auf Schlagwortebene reduziert, um verkrampft einen aktuellen Bezug des Inszenierungskonzepts zu behaupten. Den gibt es nämlich nicht!

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