Freitag, 27. April 2012

Jurek Becker - Jakob der Lügner, 27.04.2012

Die literarische Woche geht weiter: nachdem es am Samstag eine getanzte Momo gab, folgte eine weitere Romanadaption: Jurek Beckers Roman Jakob der Lügner in einer Theaterfassung.

Die Geschichte von Jurek Beckers Roman über Jakob, der während des zweiten Weltkriegs in einem polnischen Juden-Ghetto vorgibt, eine Radio zu haben und erfundene Berichte darüber verbreitet, daß die rote Armee im Anmarsch sei und der Krieg sich wende, ist so einfach und eingänglich, aber auch exemplarisch und überzeitlich, daß es sich vom Buch löst und in einen Kanon des Wissens und der Verständlichkeit eingegangen ist.
Manche Bücher verselbständigen sich: sie werden erst gerühmt, besprochen und gelegentlich von einem größeren Publikum gelesen, dann in Schulen zur Lektüre, irgendwann verfilmt (sogar ein Remake aus Hollywood ist für Beckers Roman vorhanden) und da liegt es nicht fern, sie auch in Theaterfassung zu bringen. Der Nachteil solcher verfilmten und medial verbreiteten Stoffe ist, daß sie thematisch bekannt sind, daß man oft feste Vorstellungen dazu hat. Schon im Voraus weiß man zumindest so ungefähr, was passiert und wie es zu geschehen hat. Das kann ein Vorteil sein, wird sich aber auch oft nachteilig auswirken. In Karlsruhe unterläuft der Regisseur die Erwartungen auf ebenso geschickte wie überraschende Weise: er setzt auf Komik und ein erinnerungswürdiges Bühnenbild!

Bereits im April 2011 brachte der Regisseur Martin Nimz die Uraufführung einer Theaterfassung in Heidelberg auf die Bühne. Gestern nun eine neue Version im Badischen Staatstheater, die im Vergleich zu Heidelberg um einen namenlosen Erzähler erweitert ist (ein Kunstgriff, der zur Zeit in Mode zu sein scheint und auch bei Handkes Immer noch Sturm erfolgreich ist). Dieser schildert rückblickend die Ereignisse und sieht sich beim Erinnern und Selbstbefragen mit dem eigenen inneren Schrecken konfrontiert; als Überlebender konnte er sich nie vom Grauen des Ghettos befreien. Seine Schilderungen vom dortigen Leben sind anfänglich hoch amüsant, zeigen sie doch, wie man sich mit dem Leben in ständiger Ausnahmesituation arrangierte. So sind die ersten Szenen voller Situationskomik; der Schrecken schleicht sich nur unterschwellig hinein und die Beklemmung wächst langsam. Zum ersten Mal in dieser Spielzeit wird wieder im Zuschauerraum oft gelacht, der Kontrast zum starken Schlußbild ist dann umso schärfer. Die Bedrohlichkeit der Lage ist anfänglich fast zu stark zurückgenommen: die Komik angesichts der trostlosen Lage wird nicht jeder für angemessen und nachvollziehbar halten und sich vielleicht nur jenen ganz erschließen, die auch in einer verzweifelten Lage noch optimistisch bleiben und denken, daß es hätte schlimmer kommen können. Rückblickend fällt es schwer zu glauben, daß es in dieser Situation Humor überhaupt geben konnte. Es ist damit zu rechnen, daß der teilweise vordergründige Witz einigen zu weit geht und ihnen den hintergründigen Ernst zu stark verstellt.
Der Zwiespalt des fröhlichen Ghettos wird bei einigen Irritationen auslösen und Beckers Geschichte als Tragikomödie erscheinen lassen. Hier liegt das größte Diskussionspotential dieser Inszenierung.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung befürchtete im Juli 2011, daß mit der vermehrten Präsentation nicht für die Bühne geschriebener Texte die Entdramatisierung der Theater endgültig dramaturgisch beschlossene Sache zu sein scheint. Wenn man die Karlsruher Inszenierung betrachtet, möchte man der FAZ teilweise Unrecht geben: Es ist zwar ganz und gar nicht garantiert, daß man man einen guten Roman gewinnbringend auf die Bühne bringen kann (vor einigen Jahren war Hesses Steppenwolf ein Beispiel dafür, daß es nicht funktioniert), aber in Karlsruhe gelingt die Adaption. Obwohl die Szenen überwiegend episodisch sind, es Durchhänger gibt (ca. 30 Minuten des dreistündigen Abends hätte man verlustfrei kürzen können) und nicht jede Balance austariert ist, ergibt sich doch ein fast durchgängiger Spannungsbogen, der in einem beeindruckendem Schlußbild seinen Höhepunkt findet.

Das psychologische Destillat dieser Handlungskonstellation -eine Gruppe Menschen in beklemmender existentieller Ausnahmesituation- bietet auf den ersten Blick wenig Spielraum für Überraschungen. Es wurde vor allem in Filmen hinreichend konjugiert, da in solchen Situationen exemplarische Persönlichkeiten gezeigt werden. Für Regie und Schauspieler besteht die Herausforderung darin, daß die Individuen zu Typen, die Typen zu Individuen geworden erscheinen. Der Karlsruher Regie gelingt das leider nicht durchgehend, einige der Figuren bleiben einfach zu blaß und wirken fast wie Statisten, aber es entwickelt sich trotz weniger darstellerischer Schwachpunkte eine dichte Aufführung.

Viele Zuschauer werden bei Jakob der Lügner erleichtert aufatmen: endlich dürfen die Schauspieler zeigen, was sie können und -überraschend genug bei diesem Thema- darf auch gelacht werden. Dafür ist hauptsächlich Frank Wiegard verantwortlich, der als Friseur Kowalski seine bisher stärkste Rolleninterpretation in Karlsruhe zeigt.
André Wagner als namenloser Erzähler zeigt das, was er am besten kann: er überzeugt als traumatisierte, zerissene, sich im Zwiespalt befindende Person. Er ist die tragische Hauptfigur dieser Inszenierung.
Unter den sehr guten Schauspielern haben vor allem Cornelia Gröschel, Ute Baggeröhr (beide ein klarer Gewinn für das Karlsruher Ensemble!) Timo Tank (großartig, wie er mit minimaler Mimik seine Rolle verkörpert und doch seine Figur unverwechselbar macht) und Gunnar Schmidt  die Chance, ihr Können zu zeigen.

Nach der kurzfristigen Erkrankung des Hauptdarstellers Georg Krause (hier mehr zu ihm), wurde die für letzten Freitag angesetzte Premiere um zwei Tage auf Sonntag verschoben, nachdem man ebenfalls kurzfristig mit Axel Sichrovsky einen Ersatzschauspieler gefunden hatte, der nur wenige Tage intensiv geprobt hatte, um die ersten Termine zu retten. Sichrovskys Rollenporträt des Jakob als die des kleinen Manns von der Straße ist hauptsächlich der Anknüpfpunkt für die Betrachtungen des Erzählers und nicht, wie vielleicht von einigen erwartet, die eigentliche Hauptfigur im Zwiespalt. Sichrovskys Jakob ist einer unter vielen, ein unauffälliger Durchschnittsmann, den der Zufall als Held auserwählt. Jakob wird bei ihm nicht zum unverwechselbaren Charakter. Dem Zwiespalt seiner Figur als Lügner und Hoffnungsträger wird er nicht ganz gerecht. Ob das die Regie vorgab oder dem kurzfristigen Einspringen geschuldet ist, bleibt vorerst unklar. Sichrovsky spielt sehr gut und doch wird sich der eine oder andere gefragt haben, wie Krause die Rolle gespielt hätte oder bald spielen wird.


Die sehr kreative und intelligente Bühne von Bühnenbildner Sebastian Hannak (der auch am Samstag die Bühne zum Ballett Momo entworfen hat) ist massiv orange und gibt dieser Produktion eine unverwechselbare Form: Unmengen an kleinen orangefarbenen Bällen, die wie Orangen-Berge wirken, sollen zwei metaphorische Funktionen erfüllen. Sie verbergen Latentes, Verschüttetes und Vergessenes und sind gleichzeitig ein Bild für die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Fazit (1): Eine gute, interessante und originelle Inszenierung, die im positiven Sinne an gute Produktionen unter Knut Weber anknüpft.

PS (1): Das Karlsruher Schauspiel benötigte im Vorfeld dringend einen Erfolg, um die bisher magere Bilanz zu verbessern. Jakob der Lügner ist bis zum Spielzeitende zwölf mal im Spielplan vorgesehen. Viele populäre Schauspieler des Ensembles werden aufgeboten. Schon vor der Premiere waren nur noch wenige Plätze für die folgenden Aufführungen erhältlich. Anscheinend hat man darauf geachtet, daß möglichst viele Abonnenten dieses Stück zu sehen bekommen, damit die Zuschauerstatistik am Saisonende halbwegs ordentlich aussieht. Zu oft hatte man bisher zu wenig Publikum. Der Plan sollte aufgehen:  Im Detail mag die Inszenierung diskutabel sein, aber es handelt sich durchweg um eine legitime Sicht, die diesem schwierigen Stoff trotz oder gerade wegen des Humors angemessen ist.

PS(2): Man sieht dem lustigen Treiben auch deshalb verwundert zu, weil es das Gegenteil der bisherigen Spielzeit ist. Man könnte den Verdacht äußern, daß hier Wiedergutmachung betrieben wird und einige Schauspieler die Chance ergreifen, daß sie etwas aus ihren Rollen machen dürfen und endlich Theater spielen können. So sieht man gelegentlich etwas zu viel, die Möglichkeit zum Klamauk wird etwas zu stark ausgereizt, die Balance dadurch etwas verschoben. Ich habe mich als Zuschauer ebenfalls gelegentlich daran gestört, aber mich dann mehr darüber gefreut, daß man endlich etwas gezeigt bekommt.

Fazit (2): Und sehr spät nachts noch eine letzte Erkenntnis: man kann über diese Inszenierung in einem konstruktiven Sinne viel diskutieren und nachdenken. Und deshalb ist das Ergebnis meiner nächtlichen Selbstbefragung angesichts der Vielschichtigkeit dieser Produktion eine Empfehlung: Jakob der Lügner ist in dieser Spielzeit die bisher beste Inszenierung im Kleinen Haus. Ich werde sie -nicht nur wegen Georg Krause- ein zweites Mal anschauen. Ich bin gespannt, wie dann mein Urteil ausfällt.


Besetzung: Erzähler: André Wagner; Jakob Heym: Georg Krause/Axel Sichrovsky; Lina: Cornelia Gröschel; Kowalski, Frisör: Frank Wiegard; Mischa, Boxer: Benjamin Berger; Herr Frankfurter: Klaus Cofalka-Adami; Frau Frankfurter: Ursula Grossenbacher; Rosa Frankfurter: Ute Baggeröhr; Prof. Kirschbaum: Timo Tank; Elisa Kirschbaum: Eva Derleder; Herschel, der Fromme: Jonas Riemer; Fajngold: Hannes Fischer; Preuß: Gunnar Schmidt; Meyer: Robert Besta; Kostüme: Ricarda Knödler; Video: Manuel Braun